Ungesunde Verhaltensmuster mit EMDR durchbrechen
Unbewusst am Handy daddeln, aus Frust zur Schokolade greifen, nächtelang Serien „bingen“ oder immer wieder in toxische Beziehungen geraten – warum sind solche Gewohnheiten so hartnäckig?
Ein großer Teil der Menschen kämpfen mit digitalen Abhängigkeiten und ungesunden Gewohnheiten, die kurzfristig Trost oder Ablenkung spenden, aber langfristig schaden. Die gute Nachricht: Moderne psychologische und neurobiologische Ansätze zeigen Wege auf, diese Teufelskreise zu durchbrechen und echte Veränderung zu erreichen. Dabei geht es nicht um bloße Willenskraft, sondern um neuropsychologisch fundierte Strategien, die die Selbstführung stärken.
Die Lernregel nach Donald Olding Hebb
Unsere Gehirne lernen durch Wiederholung.
„Neuronen, die zusammen feuern, verbinden sich”, sagt die Hebbsche Regel.. Hebb formulierte seine Erkenntnis bereits 1949 in seinem Buch The Organization of Behavior”:
Häufig wiederholte Gedanken, Gefühle und Handlungen formen stabile neuronale Netzwerke.
So entsteht aus dem abendlichen „nur kurz Mails checken“ oder dem Social Media Scrolling eine Gewohnheit: Ein bestimmter Auslöser (Stress, Langeweile, Einsamkeit) aktiviert automatisch das eingespurte Verhaltensmuster.
Dazu kommt hinzu, dass das Handy – schon dem Namen nach – jederzeit griffbereit ist. Auch andere digitale Medien haben es uns einfach gemacht, Filme im Streaming zu starten. Mit jeder Wiederholung verstärkt sich nun diese neuronale Verschaltung und wird zur Angewohnheit.
Tatsächlich zeigen Studien, dass exzessiver Smartphone-Gebrauch mit Veränderungen kognitiver Funktionen und einer beeinträchtigten Erregbarkeit im präfrontalen Kortex einhergehen kann – unser Gehirn „verdrahtet“ sich also im wahrsten Sinne des Wortes entsprechend unseren Gewohnheiten.
Kein Wunder, dass es so schwerfällt, tief verwurzelte Gewohnheiten einfach abzulegen. Doch genau hier setzen moderne Therapieformen mit Skill-Arbeiten an: Sie helfen, das Verhalten zu reflektieren und damit das Unbewusste wieder zu bewussten Entscheidungen zu verändern.
Im Folgenden lernen wir vier zentrale, wissenschaftlich fundierte Methoden kennen:
Acceptance and Commitment Therapy (ACT),
Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT),
Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) sowie
Attachment-Focused EMDR (AF-EMDR) nach Laurel Parnell mit Bridging Technique und „Connecting the Consequences“.
Acceptance and Commitment Therapy: Mit Akzeptanz durchbrechen statt unterdrücken
Warum verstärken Verbote oft gerade die Lust auf das Verbotene? ACT, die Akzeptanz- und Commitment-Therapie, beantwortet diese Frage mit dem Konzept der psychologischen Flexibilität. Anstatt gegen innere Impulse oder „schlechte“ Gedanken anzukämpfen, lernt man, sie anzunehmen und den Fokus auf wertebasiertes Handeln zu richten. Viele ungesunde Gewohnheiten verstärken sich durch Unterdrückung. Je mehr wir versuchen, das aufkommende Verlangen zu unterdrücken, desto stärker wird paradoxerweise das Verlangen danach (Stichwort: „Nicht an den rosa Elefanten denken!“). ACT durchbricht dieses Muster durch Annehmen statt Unterdrücken: Gedanken und Gefühle dürfen sein, ohne dass wir ihnen sofort folgen müssen.
Ein Beispiel: Ein Manager greift in stressigen Momenten reflexartig zum Smartphone, verliert sich dann minuten- oder stundenlang darin und ärgert sich anschließend über die Zeitverschwendung. Klassische Reaktionen wären, das Handy strikt zu verbannen oder sich für den „fehlenden Willen“ zu verurteilen – was meist nicht lange gutgeht. In ACT würde der Manager stattdessen üben, den aufsteigenden Impuls bewusst wahrzunehmen („Ich merke gerade starkes Verlangen, mich abzulenken – das fühlt sich wie eine Unruhe im Bauch an.“). Er nimmt dieses Verlangen an, ohne sofort danach zu handeln, vielleicht mit ein paar tiefen Atemzügen oder indem er die Empfindung neugierig erkundet. Dieses achtsame „Sitzen mit dem Verlangen“ wird Urge Surfing genannt – man reitet die Welle des Verlangens, beobachtet, wie sie ansteigt und von selbst auch wieder abebbt.
Urge Surfing als Lösung für ungesunde Verhaltensmuster
Urge Surfing stammt aus der Achtsamkeitspraxis und hat sich als effektive Technik erwiesen: Das Verlangen wird dadurch oft handhabbarer, ohne dass man ihm impulsiv nachgeben muss. Sobald die Welle abgeflacht ist, richtet ACT den Blick auf die eigenen Werte: Was ist mir eigentlich wichtig? Vielleicht merkt der Manager, dass er Wert auf Produktivität und Präsenz legt. Dementsprechend könnte er sich verpflichten (Commitment), den Stress anders abzubauen – z. B. kurz aufzustehen und sich zu strecken – bevor er wieder fokussiert an einer sinnvollen Aufgabe weiterarbeitet, die seinen Zielen entspricht.
ACT verlagert also die Energie weg vom inneren Kampf hin zu konstruktiven Schritten. Studien untermauern die Wirksamkeit dieses Ansatzes: In einer klinischen Untersuchung mit Menschen, die unter zwanghaftem Internet-Pornografiekonsum litten, führte ein ACT-basiertes Programm zu einer dramatischen Reduktion der Rückfälle. Nach 12 Sitzungen ACT sank die Pornografie-Nutzungszeit um ganze 92 %; über die Hälfte der Teilnehmer hatte den Konsum danach sogar vollständig eingestellt. Entscheidend war dabei, dass ACT die Herangehensweise der Betroffenen an ihre Gelüste veränderte. Statt rigide gegen die sexuellen Impulse anzukämpfen – was erfahrungsgemäß das Problem verschlimmern kann – lernten sie, ihr Verlangen anzuerkennen und anders darauf zu reagieren.
„Problematische Verhaltensweisen verschlimmern sich oft durch die starre, kontrollierende Reaktion auf auftretende Impulse,“ erklären die Autoren. „ACT zielt darauf ab, die Reaktion auf das Verlangen zu verändern, sodass die gewonnene Energie in die Steuerung des Verhaltens fließt, anstatt in den Kampf gegen das Verlangen.“ .
Mit anderen Worten: Wer den inneren Drang nicht mehr als Feind betrachtet, sondern als vorüberziehendes Phänomen, kann ihn besser überstehen. Diese Akzeptanz kombiniert mit klaren Werten (z. B. „Ich möchte ein guter Partner und gesund sein, deshalb wähle ich bewusst echte Nähe statt Pornografie“) schafft einen stabilen Kompass. Das Resultat sind psychologische Flexibilität und Selbstkontrolle – man wird resilienter gegenüber Versuchungen, weil man nicht mehr bei jeder Welle gleich über Bord geht, sondern das Steuer in der Hand behält.
Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT): Emotionen regulieren, gesunde Bewältigungsstrategien aufbauen
Viele ungesunde Gewohnheiten dienen dazu, mit überfordernden Gefühlen zurechtzukommen. Die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) wurde ursprünglich entwickelt, um Menschen mit extremen Emotionsschwankungen (wie bei Borderline-Störung) zu helfen. Heute profitieren jedoch auch Personen mit Essattacken, Suchtdruck oder anderen Verhaltensproblemen von DBT, denn im Kern geht es um zwei Dinge: Akzeptanz und Veränderung – und zwar beides gleichzeitig (daher „dialektisch“). Marsha Linehan, die Begründerin der DBT, brachte erstmals achtsame Akzeptanzstrategien mit verhaltenstherapeutischen Methoden zusammen. So lernen Betroffene, sich selbst mit ihren Gefühlen anzunehmen, während sie parallel konkrete Skills üben, um ihr Verhalten Schritt für Schritt zu verändern.
DBT ist sehr praxisorientiert und lehrt alltagstaugliche Fertigkeiten in vier Bereichen: (1) Achtsamkeit: im Moment präsent sein, Gedanken und Gefühle wahrnehmen ohne automatisch zu reagieren. (2) Stresstoleranz: Krisen aushalten, ohne zu zerbrechen – z. B. durch kurzfristige Notfalltechniken, die vom akuten Verlangen ablenken. (3) Emotionsregulation: die eigenen Gefühle besser verstehen und beeinflussen (etwa durch gezielte Aktivitäten, die Stimmung heben, oder durch das Verändern von belastenden Gedanken). (4) Interpersonelle Fertigkeiten: gesunde Kommunikations- und Beziehungsfähigkeiten, um zwischenmenschliche Probleme nicht in ungesunde Bewältigung abzudriften.
Nehmen wir das Beispiel emotionales Essen: Eine junge Frau fühlt sich nach einem langen Arbeitstag einsam und gestresst. Bisher greift sie dann zu Eis und Chips, um diese Leere zu füllen – danach plagen sie jedoch Schuldgefühle und körperliches Unwohlsein. In der DBT würde sie zunächst lernen, die aufkommenden Gefühle zu erkennen („Ich bemerke Traurigkeit und Anspannung in mir“). Statt automatisch zu essen, könnte sie eine Stresstoleranz-Übung anwenden – etwa „Verlangen aufschieben“, auch Mindful Delay genannt: Sie nimmt sich vor, 10 Minuten zu warten, bevor sie entscheidet, ob sie nascht
Diese kurze Pause schafft Raum, das Verlangen bewusst zu beobachten (ähnlich wie beim oben erwähnten Urge Surfing). Oft nimmt die Intensität des Impulses in dieser Zeit schon ab. Falls nicht, hat sie weitere DBT-Werkzeuge zur Hand: Sie könnte z. B. eine Freundin anrufen, einige schnelle Gymnastikübungen machen oder kurz nach draußen an die frische Luft gehen – all das sind funktionale Alternativen, um mit dem Unbehagen umzugehen, ohne zum Essen zu greifen. Wichtig ist auch die Komponente Radikale Akzeptanz: Statt sich für die Einsamkeit oder den Drang zu essen zu verurteilen, lernt sie, mitfühlend mit sich selbst zu sein („Kein Wunder, dass ich Trost suche – heute war wirklich anstrengend“). Das vermindert die emotionale Aufladung. Sollte sie dennoch einmal „rückfällig“ werden und die ganze Tüte Chips essen, würde DBT sie ermutigen, dies bewusst und ohne Vermeidungsverhalten zu reflektieren – zum Beispiel indem sie aufschreibt, wie es dazu kam und wie sie sich danach fühlt. Dadurch wird das Verhalten nicht verdrängt, sondern sie übernimmt Verantwortung und kann aus dem Ausrutscher lernen (eine Strategie, die auch in obiger Infografik als „Nachgeben – aber mit Selbstverantwortung“ beschrieben wird).
Die Wirksamkeit von DBT-Techniken ist gut belegt. Bei Essstörungen etwa hat sich DBT als vergleichbar effektiv wie die klassische kognitive Verhaltenstherapie (CBT) erwiesen. In einer aktuellen Studie mit 175 Binge-Eating-Patientinnen und -Patienten erzielten beide Ansätze deutliche Verbesserungen, und zwar nicht nur kurzfristig, sondern auch im 6-Monats-Follow-up. Interessanterweise zeigte sich, dass CBT zwar etwas schneller zu Symptomreduktion führte, jedoch tendenziell mit höherer Rückfallquote einherging, während DBT nachhaltigere Stabilisierung bot.
DBT hilft durch eine umfassende Skill-Vermittlung, Rückfälle abzufangen, indem sie den Betroffenen ein ganzes Repertoire an Bewältigungsstrategien an die Hand gibt. Gerade für impulsive Verhaltensweisen (Binge-Eating, Substanzmissbrauch, selbstverletzendes Verhalten u. a.) ist das von großem Wert:
Die Betroffenen lernen, die aufwühlenden Emotionen, die ihr Verhalten antreiben, besser zu managen. Indem man z. B. Wut, Angst oder Traurigkeit frühzeitig erkennt und reguliert, muss man sie weniger mit Essen, Bildschirm oder Alkohol betäuben. Die Fähigkeit, im Sturm der Gefühle einen Anker zu werfen, macht resilient – man wird zum Steuermann seiner Emotionen, statt von ihnen überwältigt zu werden.
Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR): Traumata aufarbeiten und innere Auslöser entkoppeln
Manchmal sitzen die Wurzeln ungesunder Muster tiefer – nämlich in unserer Vergangenheit. Ein Klassiker: Traumatische Erfahrungen oder ungelöste seelische Wunden können dazu führen, dass wir Jahre später mit scheinbar unpassenden Bewältigungsstrategien reagieren. EMDR, eine Therapieform, die ursprünglich für die Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) entwickelt wurde, setzt genau hier an. EMDR steht für Eye Movement Desensitization and Reprocessing, zu Deutsch etwa: Desensibilisierung und Aufarbeitung durch Augenbewegungen. Was zunächst ungewöhnlich klingt – Traumaverarbeitung durch geführte Augenbewegungen? – hat sich in der Praxis als äußerst wirksam erwiesen. EMDR nutzt bilaterale Stimulation (typischerweise Augenbewegungen, aber auch akustische Reize oder Handtippen), um festgefahrene belastende Erinnerungen im Gehirn zu „verdauen“. Die Methode geht zurück auf Francine Shapiro, die entdeckte, dass sich belastende Gedanken abschwächen, wenn man sie bei gleichzeitiger Stimulation beider Gehirnhälften verarbeitet – ähnlich wie das Gehirn im REM-Schlaf (Traumschlaf) Erlebnisse verarbeitet.
Was hat das mit ungesunden Verhaltensmustern zu tun? Sehr viel. Viele problematische Verhaltensweisen – von Sucht bis zu Beziehungsproblemen – sind in unbewältigten früheren Erfahrungen verwurzelt. Beispiel: Jemand, der in der Kindheit emotionale Vernachlässigung erlebt hat, entwickelt als Erwachsener vielleicht eine tiefe Angst vor Zurückweisung. Diese implizite Angst kann sich als ständiges Bedürfnis nach Bestätigung oder als Panik vor dem Alleinsein äußern – was wiederum ungesunde Strategien triggert, wie exzessiven Pornokonsum bei Einsamkeit oder das Festhalten an toxischen Partnern aus Angst vor dem Verlassenwerden. Hier kann EMDR ansetzen, indem es die ursprünglichen Wunden heilt.
In der EMDR-Sitzung fokussiert man auf eine belastende Erinnerung oder ein auslösendes Erlebnis und lässt gleichzeitig die Augen einer geführten Bewegung folgen (oder hört abwechselnde Töne etc.). Durch diesen Prozess werden die emotionalen und körperlichen Stressreaktionen nach und nach desensibilisiert – das Trauma verliert seinen „Stachel“ – und das Gehirn kann die Erinnerung neu verarbeiten, oft mit spontanen Einsichten und einer neuen Perspektive. Wenn zum Beispiel die Erfahrung „Ich wurde damals allein gelassen und fühlte mich wertlos“ verarbeitet wird, kann am Ende das Gefühl stehen: „Es war sehr schmerzhaft, aber heute bin ich nicht mehr hilflos – ich habe Wert und bin nicht mehr alleine.“ Diese korrigierte innere Haltung verändert unmittelbar die Gegenwart: Die Person verspürt bei aktuellen Auslösern (z. B. wenn der Partner spät nach Hause kommt) nicht mehr dieselbe überwältigende Angst und muss folglich auch nicht mehr zum alten Bewältigungsverhalten greifen (z. B. an der Bar flirten oder sich in Arbeit stürzen), um das Gefühl zu betäuben.
EMDR ist eine der am besten empirisch abgesicherten Traumatherapien und zeigt zunehmend auch in der Suchtbehandlung vielversprechende Ergebnisse. So fand eine deutsche Studie, dass bei alkoholabhängigen Patienten die Integration von EMDR in die Standardtherapie das Craving (Verlangen) signifikant senkte im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne EMDR. Die Idee dahinter: Bestimmte Reize oder belastende Emotionen lösen das Suchtverlangen aus, weil sie mit früheren traumatischen Erinnerungen verknüpft sind. EMDR kann diese Verknüpfung lösen oder abmildern. Auch andere Untersuchungen berichten, dass EMDR das Suchtdruck-Erleben deutlich reduzieren und das Risiko von Rückfällen senken kann.
Neurobiologisch lässt sich das so erklären, dass durch die bilaterale Stimulation eine bessere Vernetzung zwischen Amygdala (Emotionszentrum), Hippocampus (Gedächtniszentrum) und Frontalkortex (Kontrollzentrum) erreicht wird. Traumatische Fragmenterinnerungen, die vorher im limbischen System „eingefroren“ waren und bei Triggern reflexhaft zu Übererregung führten, werden durch EMDR ins normale autobiografische Gedächtnis überführt. Die Erinnerung wird dann zwar nicht gelöscht, verliert aber ihre bedrängende Macht. Für ungesunde Verhaltensmuster bedeutet das: Man gewinnt Kontrolle zurück. Die früheren Auslöser (Stress, negative Emotionen, Konflikte usw.) müssen nicht mehr automatisch in destruktives Verhalten münden, weil sie ihren Schrecken verloren haben. Dadurch entsteht Raum für bewusste Entscheidungen – etwa in einer konflikthaften Beziehung konstruktiv zu kommunizieren statt impulsiv davonzulaufen, oder bei aufkommender Langeweile kreativ zu werden statt zur Flasche zu greifen.
Attachment-Focused EMDR: Veränderung durch Bridging Technique und „Connecting the Consequences“
Ein besonders innovativer Ansatz, der EMDR mit Bindungspsychologie verbindet, ist das Attachment-Focused EMDR (AF-EMDR) nach Laurel Parnell.
Dieser Ansatz berücksichtigt, dass viele unserer Selbstwert- und Beziehungsverletzungen aus frühen Bindungserfahrungen stammen. AF-EMDR erweitert die klassische EMDR-Methode um Elemente wie das Aufbauen innerer Ressourcen (z. B. innere sichere Orte oder unterstützende „imaginäre Begleiter“) und spezifische Techniken, die auf bindungsbezogene Wunden abzielen. Zwei zentrale Verfahren dabei sind die Bridging Technique (Brücken-Technik) und „Connecting the Consequences“ (Konsequenzen verknüpfen).
Bridging Technique: Dem Auslöser auf den Grund gehen
Bei hartnäckigen problematischen Verhaltensweisen steht man als Betroffener oft vor einem Rätsel: „Ich weiß, dass es mir schadet, aber ich kann einfach nicht anders – warum?“ Genau hier hilft die Bridging Technique weiter. Die Idee ist, von einem aktuellen Auslöser oder intensiven Gefühl eine „Gedankenbrücke“ zurück zur ursprünglichen Wurzel zu schlagen. Konkret bittet der Therapeut den Klienten, in das gegenwärtige Verlangen oder Gefühl hineinzuspüren – etwa den Drang, um jeden Preis zum Handy zu greifen, oder die bohrende Leere, die einen zum Kühlschrank treibt – und dann spontan auftauchende frühere Erinnerungen hochkommen zu lassen. Oft führt diese imaginative Brücke zu Schlüsselmomenten der Vergangenheit, die mit dem heutigen Empfinden in Verbindung stehen, selbst wenn sie dem Klienten vorher nicht bewusst waren.
Ein eindrückliches Beispiel aus der Praxis: Eine Frau, die nach stressigen Familientreffen regelmäßig in Essanfälle verfiel, konnte sich mit Hilfe der Bridging Technique an eine Szene aus ihrer Kindheit erinnern. Jedes Mal, wenn sie sich als Erwachsene unverstanden und allein fühlte (Auslöser), reagierte ihr Körper mit dem vertrauten Impuls: Essen als Trost. Über die „Brücke“ gelangte sie zu einer frühen Erinnerung, in der sie als kleines Mädchen nach einem Streit traurig allein in ihrem Zimmer saß – und von ihrer Mutter mit Süßigkeiten beruhigt wurde. Diese Verknüpfung aus allein und ungeliebt fühlen einerseits und Essen als Trostspender andererseits hatte sich tief eingebrannt.
Durch EMDR konnte sie diese Kindheitsverletzung bearbeiten. Sie durchlebte unter bilateraler Stimulation noch einmal die Situation, diesmal jedoch mit dem Beistand ihres erwachsenen Selbst und des Therapeuten. Während dieses Prozesses wandelte sich ihr inneres Erleben: „Es fühlt sich jetzt anders an. Ich bin nicht allein. Ich bin geliebt.“ berichtete sie danach – „Ich kann zu meiner Familie gehen und mir Unterstützung holen, statt alleine vor dem Kühlschrank zu sitzen.. Diese tiefgreifende Neuverarbeitung führte dazu, dass der Drang zu Essattacken in jenen Momenten deutlich nachließ.
Die Brücken-Technik ermöglichte es, den verborgenen Ursprung des Verlangens aufzudecken und aufzulösen. In ähnlicher Weise lässt sich Bridging bei vielen Verhaltensmustern einsetzen: Der unstillbare Griff zum Smartphone könnte etwa auf ein Gefühl von innerer Leere zurückführen, das aus frühen Vernachlässigungserfahrungen stammt; die Tendenz, sich in dysfunktionalen Beziehungen anzuklammern, könnte eine Brücke schlagen zu Verlustängsten aus der Kindheit. Hat man diese Wurzelereignisse erst einmal identifiziert, können sie mit EMDR verarbeitet werden – oft ein Schlüssel, um die heutige Reaktionsweise grundlegend zu verändern.
Connecting the Consequences: Verlangen mit der Realität verknüpfen
Die zweite Technik, „Connecting the Consequences“ (CTC), zielt direkt auf das Belohnungssystem und die Neuvernetzung von Erinnerungsspuren. Bei vielen Abhängigkeiten und Gewohnheiten liegt nämlich ein folgenschwerer Mechanismus vor: Das Gehirn trennt das Verlangen und die Handlung von deren negativen Konsequenzen. Während der Kick oder die kurzfristige Erleichterung im Moment voll bewusst erlebt wird, werden die unerwünschten Folgen (Scham, körperliche Beschwerden, soziale Probleme) mental abgespalten oder verdrängt. So kann sich z. B. ein Raucher jedes Mal auf die Zigarette freuen und den Genuss spüren, ohne in dem Moment an seine Lungenprobleme oder das morgendliche Husten zu denken – diese Verbindung ist quasi gekappt. Das erklärt, warum rein rationale Einsicht oft nicht reicht, um ein Verhalten zu ändern: Intellektuell weiß man um die Konsequenzen, aber im entscheidenden Moment sind sie wie ausgeblendet.
Connecting the Consequences setzt genau hier an. Die Technik zwingt das Gehirn, Verlangen, Handlung und Konsequenz wieder in einem Gesamtfilm zu erleben – und zwar unter EMDR-Stimulation. Praktisch läuft das so ab:
Der Therapeut lässt den Klienten eine konkrete jüngste Episode seines problematischen Verhaltens in Erinnerung rufen – zum Beispiel die letzte Casino-Nacht, die durchtanzte Partynacht mit zu viel Alkohol, oder die jüngste stundenlange Youtube-Binge-Session. Wichtig ist, dass diese Situation eine spürbare negative Konsequenz hatte (etwa finanzieller Verlust, furchtbarer Kater, versäumte Verpflichtungen oder schlicht tiefe Unzufriedenheit mit sich selbst).
Nun geht der Klient mental noch einmal durch diesen „Film“ – Techniken, die wir auch in unserem Seminaren einüben:
Von dem Moment, wo der Drang aufkam, über das Nachgeben und den High-Moment, bis hin zur Konsequenz, wo das böse Erwachen kam. Während der Klient sich diese Sequenz vorstellt, wird kontinuierlich bilaterale Stimulation (z. B. Augenbewegungen) durchgeführt. Diese Kombination aus konzentriertem Nacherleben und gleichzeitiger Stimulation bewirkt, dass die vormals getrennten neuronalen Netzwerke verknüpft werden:
Die Spur „Wunsch → Handlung (Belohnung)“ und die häufig später emotional auftauchende Spur „Konsequenz (Leid)“ bleiben keine isolierten Ereignisse, sondern werden im Gehirn miteinander verknüpft.
Connecting the Consequences: Praktische Anwendung und Messung
In der Begleitung mit AF-EMDR lassen wir diesen Prozess mehrmals durchlaufen und fragen fragt zwischendurch nach der Intensität des Verlangens (auf einer Skala von 0 bis 10). Meist berichten Teilnehmende schon nach wenigen Durchgängen, dass die Lust auf das Verhalten drastisch sinkt – einfach weil sie jetzt untrennbar mit dem schlechten Ausgang verbunden ist. Der früher dissoziierte Teil (die negativen Folgen) werden wieder zusammen verbunden.
Erste Erfahrungsberichte zu CTC zeigen bemerkenswerte Ergebnisse. Laurel Parnell berichtet von Erfolgen dieses Protokolls bei verschiedensten Süchten und zwanghaften Verhaltensweisen – von Kokain- und Methamphetaminabhängigkeit von Profisportlern über Rauchen und sexueller Sucht (z. B. chronischem Pornokonsum) bis hin zu Bulimie, ungesunden Beziehungsmustern und selbst seltenen Phänomenen wie „Diabulimie“".
Wichtig ist, dass tatsächlich reale negative Konsequenzen erlebt wurden, an die angeknüpft werden kann – denn diese liefern das emotionale „Brennmaterial“ für den Lernprozess. Die Theorie hinter CTC leuchtet ein: Wenn das Gehirn begreift, dass auf den kurzen Rausch unweigerlich Schmerz folgt, verliert die Sucht erheblich an Reiz. Genau das beobachtet man klinisch: Sobald die Verknüpfung steht, berichten Klienten oft, dass sie gar kein starkes Verlangen mehr verspüren.
Im Grunde imitiert man hier in sicherem Rahmen einen Lernprozess, der sonst vielleicht erst nach einem sehr schmerzhaften „rock bottom“ von selbst einsetzen würde – nur dass die Betroffenen dank EMDR nicht erst alles im realen Leben zerstören müssen, um zu dieser Einsicht zu gelangen. CTC ist damit ein machtvolles Werkzeug, um das Belohnungszentrum neu zu konditionieren. In Kombination mit Bridging (das die Ursachen angeht) und den DBT/ACT-Techniken (die im Alltag helfen, mit dem restlichen Verlangen umzugehen) ergibt sich ein ganzheitlicher Ansatz, der sowohl Tiefenheilung als auch akute Verhaltenskontrolle umfasst.
Mit moderner Psychologie zu mehr Selbstführung und Widerstandskraft
Die hier vorgestellten Ansätze zeigen, dass es möglich ist, ungesunde Verhaltensweisen abzulegen. Indem wir Verlangen akzeptieren statt bekämpfen (ACT), Emotionen regulieren und neue Skills lernen (DBT) sowie tiefliegende Wunden heilen und das Gehirn gezielt „umverdrahten“ (EMDR & AF-EMDR), können selbst festgefahrene Verhaltensmuster durchbrochen werden.
Wichtig ist mir zu betonen: Veränderung ist kein Sprint. Es ist ein Prozess der Neuvernetzung im Gehirn – vergleichbar mit dem Anlegen neuer Trampelpfade (“Neuroplastizität”), die durch Wiederholung allmählich zu breiten Wegen werden. Rückschläge sind dabei keine Schwäche, sondern Teil des Lernens.
Ich selbst bin zutiefst dankbar, dass ich bei Dr. Laurel Parnell persönlich lernen kann. Ihre Haltung, ihr Wissen und ihre Methodik haben meine eigene Praxis entscheidend geprägt. Als Mitglied des Parnell Institute vertiefe ich kontinuierlich die Anwendung der von ihr entwickelten Techniken – insbesondere im Bereich von AF-EMDR. Ihre Arbeit verbindet Tiefe, Präzision und Menschlichkeit auf eine Weise, die mich immer wieder neu berührt – und vor allem: wirkt.
Für reflektierte Menschen – Führungskräfte, Therapeut:innen, Selbstentwickler:innen – sind diese Methoden mehr als Interventionen. Sie sind Einladungen zur Selbstführung: Resilienz im besten Sinne. Denn sie zeigen, dass wir nicht Opfer unserer Impulse bleiben müssen – sondern lernen können, in Kontakt mit uns selbst zu treten, Handlungsspielräume zu erkennen und uns bewusst für das zu entscheiden, was uns stärkt. Die Neurowissenschaft belegt: Unser Gehirn bleibt formbar – ein Leben lang. Und so bleibt auch der Weg offen – hin zu mehr Präsenz, Freiheit und Tiefe im eigenen Sein.
Verwendete Studien & Fachquellen
Zum Thema ACT und Verhaltenssüchte:
Twohig, M. P., Crosby, J. M., & Cox, J. M. (2009). Treating obsessive compulsive disorder using Acceptance and Commitment Therapy. Behavior Modification, 33(6), 705–730.
Levin, M. E. et al. (2017). A randomized trial of acceptance and commitment therapy for compulsive pornography viewing. Journal of Contextual Behavioral Science, 6(2), 134–144.
Zur Wirksamkeit von DBT bei Essverhalten & Emotionsregulation:
Safer, D. L., Telch, C. F., & Agras, W. S. (2001). Dialectical behavior therapy for bulimia nervosa. American Journal of Psychiatry, 158(4), 632–634.
Chen, E. Y. et al. (2021). Comparison of dialectical behavior therapy and cognitive behavior therapy for binge eating: A randomized clinical trial. International Journal of Eating Disorders, 54(2), 212–222.
Zu EMDR bei Suchtverhalten:
Hase, M. et al. (2008). EMDR Reprocessing of the Addiction Memory: Pretreatment, Posttreatment, and 1-Month Follow-Up. Journal of EMDR Practice and Research, 2(3), 170–179.
Markus, W., Hornsveld, H., & Klerk, C. de. (2008). The effect of EMDR on craving and relapse prevention in alcohol dependent outpatients: A pilot study. Journal of EMDR Practice and Research, 2(3), 174–179.
Zur Theorie & Anwendung von AF-EMDR:
Parnell, L. (2007). Attachment-Focused EMDR: Healing Relational Trauma. Norton Professional Books.
Parnell Institute, „Advanced Protocols and Modifications for EMDR“ – Workshopunterlagen (2021–2023).
Zu digitalen Abhängigkeiten und neuronalen Veränderungen:
Montag, C., & Walla, P. (2016). Carpe diem instead of losing your social mind: Beyond digital addiction and why we all suffer from digital overuse. Cogent Psychology, 3(1), 1157281.
Horvath, J., Mundinger, C., Schmitgen, M. M., Wolf, N. D., Sambataro, F., Hirjak, D., ... & Kubera, K. M. (2020). Structural and functional correlates of smartphone addiction. Addictive Behaviors, 105, 106334.